Harleys für Armen? Bessere Harleys? Oder doch was ganz anderes?
Wer kennt sie nicht, die großvolumigen Zweizylinder-V-Maschinen, die Big Twin aus Japan. Als sie auftauchten, waren Attribute wie „Harley für Arme“ oder gar „die bessere Harley“ zu hören. Großvolumige Cruiser mit V-2-Motoren sind sie ja. Aber was haben sie sonst noch mit den dicken Guffeln aus Milwaukee gemeinsam – oder auch nicht?
Braucht ein Cruiser überhaupt einen Big Twin?
Bei einem Motorrad aus der Kategorie Cruiser oder Softchopper denkt man natürlich zuerst an den V-Motor. Doch ist der gar nicht notwendig wie zum Beispiel die BMW R 18 zeigt. Entscheidende Merkmale sind der flachere Lenkkopfwinkel und die aufrechte Sitzposition. Natürlich auch die Charakteristik des Motors: Der sollte sich für das gemütliche, schaltfaule Brummeln eignen. Dazu muss er anständig von unten durchziehen, also genügend Hubraum haben. Der ist ja sowieso bekanntlich durch nichts zu ersetzen, außer durch noch mehr Hubraum. Und den haben wir bei den (vermeintlichen?) Harley-Davidson-Konkurrentinnen allemal.
Zum Cruisen muss es aber nicht unbedingt ein Big Twin sein, wie der Boxer der R 18 deutlich zeigt. Und er muss auch kein Langhuber sein. Das sind nämlich die Motoren der so genannten Harleys für Arme keineswegs. Und auch nicht der der R 18. Mit seinen 107,1 mm Bohrung und 100 mm Hub kommt er als recht gemäßigter zwar, aber doch als Kurzhuber daher. Fast schon von ein quadratisches Bohrung-/Hub-Verhältnis, aber doch ein Kurzhuber.
Die Motoren von Harley-Davidson sind jedoch traditionell Langhuber. Immer gewesen und sind es auch heute noch. Einzige Ausnahme: der Revolution-Max-Motor, der untypischste Harley-Davidson Motor aller Zeiten. Wenn man mal absieht von den Nicht-V-2-Motoren, den uralten Einzylindern, dem Boxer aus dem Zweiten Weltkrieg (gnadenlos abgekupfert bei BMW) und den kleineren Motoren der Aermacchi-Harley-Davidson-Linie. Also sagen wir: der untypischste Big Twin. Dazu aber später mehr.
Langhubige Big Twin
Die traditionellen Big Twins aus Milwaukee sind (anders als die meisten vermeintlichen Harley-Davidson-Konkurrentinnen) also Langhuber. Bei der Flathead war das vermutlich nicht nur dem Bestreben geschuldet, ein möglichst hohes Drehmoment zu erzeugen. Seitengesteuerte Motoren haben ein immenses Problem mit dem Flammweg. Das ist die Entfernung, die die Verbrennung von der Zündkerzen aus zurücklegen muss, bis das ganze Gemisch im Brennraum brennt. Bei obengesteuerten Motoren befindet sich der Zylinderkopf nur über dem Zylinder. Bei einem seitengesteuerten Motor hingegen ragt er über den Zylinder hinaus, nämlich über den Bereich in dem die (stehenden) Ventile sitzen. Der Flammweg, als größte Entfernung von der Zündkerze zur Wand ist dadurch größer. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu vermindern besteht nun darin, eine kleine Bohrung und daraus resultierend einen langen Hub vorzusehen.
Die Geschichte mit dem Flammweg war nun ein Grund, zu versuchen, die Ventile oben in den Zylinderkopf zu hängen. Theoretisch ist das kein Problem. Praktisch aber schon, zumindest damals: Um hängende Ventile zu betätigen, braucht man bei einer unten liegende Nockenwelle die berühmten Kipphebel. Und die üben eine seitliche Kraft auf die Ventile aus, welche von der Ventilschaftführung aufgenommen werden muss. Und das machten die damaligen Werkstoffe nicht mit.
Der Knucklehead, der erste Harley-Davidson-Motor mit hängenden Ventilen wollte daher nicht so recht funktionieren. Jedenfalls nicht auf zuverlässig über längere Zeit. Deswegen belieferte man ja auch das Militär den ganzen Zweiten Weltkrieg hindurch mit Flatheads. Erst mit der Panhead bekam man einen zuverlässig funktionierenden OHV-Motor.
Obengesteuerte Big Twin
Harley-Davidson blieb aber auch bei den obengesteuerten Motoren dem Prinzip des Langhubers treu. Der 1207-cm³ Knucklehead hatte eine Bohrung von 87,3 mm und einen Hub von 100,8 mm, die 989-cm³-Version eine Bohrung von 84 mm und einen Hub von 88,9 mm. Bei der Panhead war das genauso. Heute besitzt zum Beispiel der Milwaukee Eight mit 1868 cm³ Hubraum eine Bohrung von 102 mm und einen Hub von 114,3 mm.
Natürlich sind Langhuber eine feine Sache, wenn man viel Dampf von unten haben will. Problematisch wird es jedoch bei höheren Drehzahlen. Der lange Hub bewirkt nämlich eine hohe Kolbengeschwindigkeit. Die ist einmal maßgeblich für den Verschleiß durch Reibung zwischen Kolben und Zylinder und zum anderen müssen die bewegten Massen ja beschleunigt und abgebremst werden. Und auch das geht aufs Material.
Harleys nachzubauen hatten die Japaner schon lange hinter sich, als sie anfingen ihre eigenen Big Twins zu bauen. Tatsächlich gab es von 1935 bis 1958 einen japanischen Lizenz- bzw. Nachbau der Flathead. Außerdem waren die japanischen Hersteller in den 1980ern auch schon lange über das Stadium hinaus, wo sie erst kopierten und dann verbesserten. Spätestens seit den Vierzylinder-Reihenmotoren, die den europäischen Motorradmarkt aufmischten, konnte man in Japan eigene Motoren entwickeln. Und so ging man auch bei den „Harley-Davidson-Konkurrentinnen“ von Anfang an eigene Wege.
Big Twin einmal anders
Die Söhne Nippons griffen also irgendwann das Konzept des großvolumigen V-2-Motors auf, dass ja schließlich auch kein Privateigentum von Harley-Davidson war. Großvolumige V-2 Motoren haben bei verschiedenen Marken eine lange Tradition im Motorradbau. Man denke nur an die JAP-Motoren, an Vincent und das Model X von Matchless.
Der Zylinderwinkel von 45° erschien wohl den Konstrukteueren der Yamaha Virago als zu eng und so wählten sie für ihren Big Twin einen von 60°. Bei der Intruder von Suzuki machte man es scheinbar den Yankees aus Milwaukee nach. Aber nur scheinbar. Guckt man da nämlich ins Kurbelgehäuse, sieht man dass die Hubzapfen der beiden Pleuel um 45° versetzt sind. Damit ist diese Maschine eigentlich kein wirklicher V-Motor. Wie dem auch sei, jedenfalls leuchtet es ein, dass diese japanischen Aggregate beim Guffeln im Standgas nicht „Potato, Potato, Potato…“ vor sich hin brabbeln. Honda und Kawasaki hingegen sind mit 52° bzw. 50° recht nah bei den Harleys.
Auch hinsichtlich des Bohrung-/Hub-Verhältnisses machte man es bei den Big Twins aus dem fernen Ostasien teilweise oder gar meist anders: Meine gute, alte Elfie gewinnt ihre 1063 cm³ Hubraum aus einer Bohrung 95,2 mm und einem Hub von 75 mm. Da haben wir also einen Kurzhuber. Während die 1400er Intruder von Suzuki noch tendenziell ein Langhuber war (94 x 98 mm) ist das bei der 1800er anders: Hier beträgt die Bohrung 112 mm und der Hub nur 90,5 mm. Auch Honda weicht da etwas ab, ihre VN 1300 ist ein Langhuber. bei Kawasaki jeoch gibt es Kurzhuber.
Big Twins mit obenliegender Nockenwelle
Schließlich verfolgten die Japaner auch bei den Ventilsteuerung ihrer Big Twins einen anderen Ansatz: Sowohl die Intruder als auch die Virago und genau so die Cruiser von Honda und Kawasaki besitzen oben liegende Nockenwellen. Unter den Tanks aus Milwaukee stößelt es aber auch noch im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts munter vor sich hin.
Betrachtet man es so also näher, wird klar, dass es sich bei den Big Twins aus Japan keineswegs um Harley-Kopien oder Nachbauten handelt. Ob sie besser sind, sei einmal dahingestellt. Natürlich gibt es Argumente für Langhuber. Und auch Stößelstangen sind nicht per se schlecht. Bei BMW kommen sie in den Boxern bis heute zum Einsatz und auch bei allen Guzzi-Modellen außer der allerneuesten.
Und was ist mit dem Attribut „Harley-Konkurrenz“? Tja, auch die R 18 von BMW und anderen Motorräder, die man in die Cruiser-Kategorie einordnen kann, sind so gesehen Konkurrentinnen von Harley-Davidson. Weil sie für die gleiche Art, Motorrad zu fahren gemacht sind.
Fazit: Wenn wir die japanischen Big Twins mit denen aus Milwaukee vergleichen, vergleichen wir Äpfel mit Birnen.
Der Revolution-Max-Motor von Harley-Davidson
Nun gibt es da noch eine interessante, untypische Sache aus Wisconsin: Zu Anfang habe ich ja den Revolution-Max-Motor von Harley-Davidson bereits erwähnt. Der stellt nun eine grundlegende Neuentwicklung dar und hat mit den „echten“ Harley-Davidson-Motoren im Grunde nur gemeinsam, dass er ein großvolumiger V-2-Motor ist. Böse Zungen könnten nun sogar behaupten, dass Harley-Davidson hier seinerseits von der japanischen Konkurrenz abgekupfert hätte.
Zunächst mal besitzt dieser Motor einen Zylinderwinkel von 60° wie der Big Twin der Virago. Dann ist er mit einer Bohrung von 102 mm und einem Hub von nur 72 mm (!) Ein astreiner Kurzhuber. Schließlich sagt er auch den Stößelstangen, die seit dem ersten OHV-Motor aus Milwaukee dazu gehört haben, ein schnödes Adieu. Und man hat nicht nur eine Nockenwelle pro Zylinder vorgesehen, sondern gleich deren zwei!
Ein total untypischer Harley-Davidson-Motor also. Aber logisch. Die Zeiten, in denen man verhältnismäßig hohe Leistungen aus Langhubern mit unten liegende Nockenwellen herausholen konnte, sind lange vorbei. Die 70 PS, welche die ihrerzeit atemberaubende Vincent Black Lightning aus 1000 cm³ holte, wären heute gerade mal für einen gemütlichen Cruiser ausreichend. Aber das war ja auch ein langhubiger Motor mit Stößelstangen wie die traditionellen Harleys. BTW: Die 1000er Tornax (mit JAP-Motor) ließ bereits in den 30ern noch zwei Pferdchen mehr laufen – aber wer kennt die schon? Wenn auch die japanischen kurzhubigen Cruiser-Motoren mit oben liegende Nockenwellen nicht mehr aus dem Hubraum holen, zeigt Harley-Davidson mit dem Revolution Max, was mit solchen Big Twins möglich ist.
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